Antifaschismus in den Comics von Lorena Canottiere

Heiko Koch

Verdad

Die Graphic Novel Verdad ist die Geschichte des rebellischen Lebens der gleichnamigen jungen Frau Verdad. Den Namen Verdad – Wahrheit – erhielt die Protagonistin der Geschichte von ihrer Mutter, die es Anfang des letzten Jahrhunderts in die libertär geprägte Landkommune und Künstlerkolonie Monte Verità am Lago Maggiore zog. Dieser Ort nahe Ascona war um die vorletzte Jahrhundertwende mehrere Jahrzehnte ein Lebensbereich und Experimentierfeld unterschiedlicher LebensreformerInnen, KünstlerInnen, TänzerInnen, LiteratInnen, PhilosophInnen, politischer RebellInnen und Linker jeder Coleur.

Aus einer Liebesbeziehung in dieser Commune entspringt Verdad. Schwanger mit ihr kehrte die Mutter in das kleine spanische Bergdorf zurück aus dem sie stammte und ließ dort Verdad bei ihrer Mutter zurück. Die Großmutter ist eine engstirnige, reaktionäre Katholikin, die die kleine Verdad spüren lässt, wie unzufrieden sie selbst mit ihrem Leben und das ihrer Tochter ist. Und so wundert es nicht, dass es auch Verdad aus dem Dorf und in den Kampf um die eigene und die gesellschaftliche Unabhängigkeit und Freiheit zieht.

Als junge Frau schließt sich Verdad mit ihrem Geliebten Enrique den anarchistischen Milizen im spanischen Bürgerkrieg an. An der Front wird sie schwer verwundet und ihr muss der rechte Arm amputiert werden.

Wie schon zuvor in Barcelona, als Enrique Angesichts der Niederlage der Republik sie aufforderte, ihm nach Frankreich zu folgen, lehnt sie ein erneutes Angebot ihrer Genossen ab, mit ihnen zu kommen und entscheidet sich, ihren Kampf alleine weiterzuführen: sie versteckt sich in einer Höhle in den Pyrenäen und führt von dort aus kleine Sabotageaktionen gegen die Franquisten weiter. Dort wird sie versorgt von einem  Mädchen, das, ähnlich wie sie, unter den gesellschaftlichen Bedingungen leidet und ihr einziger Kontakt zur Außenwelt ist. Als sie sich schließlich doch entscheidet die Grenze nach Frankreich zu passieren, wird sie beim Überschreiten der Grenze von einem Guardia Civil ermordet.

Im Jahr 2016 erschien „Verdad“ in dem römischen Comic-Verlag Coconino Press. Ein Jahr später veröffentlichte der Wiener Verlag bahoe books diese spannende wie traurige Geschichte einer spanischen Freiheitskämpferin.

Geschrieben und gezeichnet wurde diese Geschichte von der Turinerin Lorena Canottiere. Sie erzählt das Leben einer selbstbewussten jungen Frau in verschiedenen Zeitabschnitten und zeigt dabei die unterschiedlichen Bestrebungen freiheitlicher Gesellschaftsentwürfe in Italien und Spanien auf. Überblendet wird die Erzählung dabei immer wieder mit der Fabel eines räuberischen Fuchses, der, wie die Protagonistin, aus den Bergen Spaniens stammt.

Wie diese Metapher zwischen Verdad und dem Fuchs letztendlich funktioniert und welche Schlüsse die LeserIn daraus zu ziehen hat, lässt Loren Canottiere offen. Genauso, wie weitere Fragen zu anderen Personen und Verhältnissen in der Geschichte offen für Interpretationen bleiben. Diese Interpretationsoffenheit könnte man fast analog zu dem einzigartigen Zeichenstil nennen, für den Lorena Canottiere so berühmt ist. Eine ligne claire existiert bei ihr nicht. Personen, Gegenstände und Orte werden fast impressionistisch nur mit Farben wiedergegeben. Mit Schraffuren und Strich werden Übergänge und Schattierungen, Konturen und Details, aber auch Flächen so kreiiert, das sie wie von Licht durchströmt wirken, selbst dann, wenn die Szenen zur Nachtzeit spielen. Ausnahmen bilden allein einige düstere Skizzen zur gewalttätigen Geschichte des Fuchses, die oft in schwarz und rot gehalten sind.

Man kann diese schöne Graphic Novel jeder AntifaschistIn nur wärmstens empfehlen und sich wünschen, dass auch weitere Werke von Lorena Canottiere ins Deutsche übersetzt werden. Wie z.b. die von Julian Voloj geschriebene und von Lorena Canottiere gezeichnete Geschichte des antifaschistischen Rennradfahrers Gino Bartali, die letztes Jahr unter dem Titel Gino Bartali – un champion cycliste parmi les justes in Frankreich bei Marabulles erschien.

Verdad, bahoe books, aus dem Italienischen von Georg Fingerlos, 160 Seiten | € 22,00

ISBN 978-3-903022-71-3

Leseprobe: https://bahoebooks.net/wp-content/uploads/verdad_extract.pdf

Oche - il sangue scorre nelle vene

Gänse – das Blut fließt durch die Venen

Die Graphic Novel Gänse – das Blut fließt durch die Venen der Turinerin Lorena Canottiere, erschien im Jahr 2011 im Verlag „Coconino Press“. Die auf 120 Seiten gezeichnete Geschichte erzählt über drei Schicksale von Jugendlichen im heutigen Turin, die sich in ihrer Einsamkeit kennen lernen und Fluchtpläne miteinander schmieden. Sie wollen diesem modernen Turin entfliehen, das außer Konsum, Zwang und Gewalt ihnen wenig zu bieten hat.

Nadia stammt aus einer proletarischen Familie und wohnt im ärmlichen Randbezirk der Industriemetropole. Ihr Leben ist gezeichnet durch häusliche Gewalt. So flieht sie in Tagträumen von Ungeheuren und Fabeln. An der Schule ist sie eine Außenseiterin. Davide hingegen stammt aus Guten Hause. Seine Eltern sind reich und die häuslichen Themen sind Karriere und Erfolg. Die Oberflächlichkeit und Kälte der Beziehungen stoßen ihn ab. Zu alle dem kommt noch, dass sein Bruder Faschist ist. Ihr Verhältnis ist mehr als angespannt. So zieht sich auch Davide vor seiner Familie zurück und beschäftigt sich lieber mit Literatur und Poesie.

Als Davide mitbekommt, dass sich sein Bruder zu einer Gewaltaktion mit seinen Kameraden von CasaPound Italia verabredet, folgt er diesem. Er will die Aktion verhindern. Auch Nadia hat in der Schule einen Kassiber gefunden, der einen rassistischen Angriff am Fluss ankündigt. Sie eilt ebenfalls zum Ort des Geschehens. Beide Jugendliche kommen zur rechten Zeit, um den Angriff auf Henry, einen jungen Flüchtling aus Sierra Leone, zu verhindern. Dabei scheuchen sie die Gänse eines Stadtstreichers auf, der hier seine Hütte hat. Diese sorgen für beträchtlichen Lärm und Aufmerksamkeit – die Faschisten fliehen.

Der von seinen Kriegserlebnissen tief traumatisierte und gesellschaftlich isolierte Henry findet in den beiden anderen Jugendlichen Weggefährten und nach einer erneuten Auseinandersetzung mit den Faschisten reift in ihnen der Gedanke der Enge und Feindseligkeit Turins zu entfliehen. Sie klauen ein Motorino und fahren durch die Nacht ans Meer. Ihre Reise entwickelt sich dabei als ein gegenseitiger Prozess der Befreiung von den Dämonen ihrer Vergangenheit.

Gezeichnet ist die Graphic Novel in der Lorena Canotierre eigenem Schraffurstil. Zumeist in schwarz-weiß, werden die Zeichnungen in den bedrohlichen Phantasien von Nadia und den düsteren, albtraumhaften Rap-Songs von Henry bunt coloriert. Hier greift Lorena Canotierre für Nadia auf eine Fabel des 1995 tragisch ums Leben gekommenen sardischen Schriftsteller Sergio Atzeni zurück. Und die von Henry erfundenen Reims, spiegeln die Götterwelt der Jorubas wider.

Die Graphic-Novel zeigt gekonnt das Gefühl der Tristesse und Einsamkeit und die Suche nach Geborgenheit und Sinnhaftigkeit von Jugendlichen im heutigen Italien auf, und die Notwendigkeit der Empathie und Solidarität für einander. Die Graphic Novel ist hiermit allen wärmstens empfohlen.

Bisher liegt keine Übersetzung ins Deutsche vor.

Oche, Coconino Cult, 120 Seiten | 14,25 Euro

ISBN: 9788876181955

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