Genova 2021 – Interview mit Haidi Giuliani

von Heiko Koch

ITALIENISCHER TEXT HIER

Vor zwanzig Jahren, während des G8-Gipfels in Genua, führte die Unterdrückung der No-Global-Protestbewegung zu einer Verletzung der Grundrechte in einem Ausmaß, wie es sie in Europa seit dem Zweiten Weltkrieg nicht mehr gegeben hat: Masseninhaftierungen, unerhörter Polizeigewalt, Folter und dem Mord an dem jungen Carlo Giuliani. Wir wollen uns an carlo und an die Ereignisse erinnern, indem wir ein Interview veröffentlichen, das Heiko Koch mit Haidi Giuliani, der Mutter von Carlo, geführt hat. Darin erzählt Haidi, was in diesen zwanzig Jahren passiert ist, wie sich Italien verändert hat, wie die Verantwortungen nicht geklärt wurden und die Verantwortlichen immer noch nicht zur Rechenschaft gezogen worden sind.

Heidi Giuliani

Heiko: Hallo Haidi, es ist lange her seit den Protesten gegen den G8-Gipfel in Genua 2001, wo es zu unvorstellbarer Polizeigewalt kam und dein Sohn erschossen wurde. Zwanzig Jahre, um genau zu sein. Was beschäftigt dich am meisten in diesen Tagen im Juli?

Haidi: Nicht nur in diesen Tagen – natürlich. Ich beschäftige mich seit zwanzig Jahren mit staatlicher Gewalt und Repression. Als Carlo getötet wurde, dachte ich „Die Wahrheit muss ans Licht kommen. Gerechtigkeit wird wohl nicht zu erlangen sein, aber die Wahrheit, die kann nicht geleugnet werden“. Doch gerade das haben sie geschafft, wie schon so oft vorher. Schon in vielen anderen Fällen waren Kinder von uns getötet worden, und damit wurden nicht nur elementarste Grundrechte verletzt. Es wurde auch verschwiegen, vertuscht und betrogen; die Wahrheit kam nicht ans Licht. Das hat mich dann veranlasst, über die Piazza Alimonda hinaus auch nach diesen anderen Kindern zu suchen, ihre Geschichten zusammenzustellen, alle unterschiedlich, aber alle vereint durch den roten Faden der Unwahrheit, der fehlenden Gerechtigkeit.

Heiko: Welche Spuren haben die Ereignisse von damals in Genua hinterlassen? Was hat sich verändert? Und welche Spuren haben die Ereignisse bei der italienischen Linken hinterlassen?

Haidi: Ich habe den Eindruck, dass sich die Lage nur verschlimmert hat, in dem Sinne, dass die fremdenfeindliche Rechte an Boden gewinnt, der Egoismus grassiert, während die Linke wie immer gespalten ist. Es gibt viele mehr oder weniger kleine freiwillige Organisationen, die sehr Gutes leisten, aber es fehlt der starke Wille, sich zusammenzuschließen, um zu versuchen, die Richtung der Regierung auf eine Zukunftsvision hin zu verändern.

Heiko: Welche Rolle spielen in der jüngeren italienischen Geschichte die Ereignisse der G8, die Proteste und deren Repression?

Haidi: Dank der großen Medien, die sofort eine verzerrte Lesart der Ereignisse gaben, wissen die meisten Menschen nichts, erinnern sich an nichts oder höchstens daran, dass der Schwarze Block “die Stadt in Schutt und Asche gelegt“ hat… Die brutalen Methoden der Carabinieri und der Staatspolizei damals in Genua finden heute ihre Fortsetzung in der Val di Susa, wo die DorfbewohnerInnen zusammen mit ihren Bürgermeister*innen versuchen, das Gebiet vor den Zerstörungen zu schützen, die der Bau der Hochgeschwindigkeitsstrecke anrichtet. Die nationale Presse berichtet davon natürlich nichts. 

Heiko: Wie wurde die Frage der Verantwortlichkeit angegangen? Wer wurde verantwortlich gemacht? Und wenn nicht, warum nicht?

Haidi: Das Vorgehen der Polizei hatte tatsächlich aktiv dazu beigetragen, die öffentliche Ordnung in der Stadt Genua zu gefährden. Was auch immer die Gründe waren – mangelnde Koordination zwischen den Sicherheitskräften oder der Wille, die Bewegung zu unterdrücken -, die Zusammenstöße vom 20. Juli 2001 sind nicht den Demonstrant*innen zuzuschreiben, die nur ihr Recht verteidigten, legitim auf der Straße zu demonstrieren. Das wurde sogar durch ein Gerichtsurteil bestätigt. Soweit ich weiß, wurden nur einigen Verantwortlichen der Polizei Sanktionen auferlegt. Zwei der wegen Gewalt an der Diaz-Schule verurteilten Personen wurden aber noch vor zwei Jahren in angesehene Ämter befördert.

Heiko: Viele GenossInnen mussten ins Gefängnis. Wie geht es ihnen heute? Es hat Hunderte von Schwerverletzten und Tausende von Leichtverletzten gegeben. Viele wurden durch die Polizeigewalt traumatisiert. Wie geht es denen heute?

Haidi: Ich habe das Schicksal der inhaftierten Genossinnen und Genossen eine Zeitlang verfolgt und auch weiterhin einige der Opfer getroffen. Natürlich sind zwanzig Jahre eine lange Zeit, und manche vergessen lieber. Aber eins weiß ich: In diesem Juli werden wieder viele hier in Genua dabei sein.

Heiko: Werden die Ereignisse von Genua in Italien in Erinnerung bleiben? An wen und wie wird man sich erinnern? Wie wird sich Genua an diese Ereignisse vor 20 Jahren erinnern? Welche Veranstaltungen, Kundgebungen und Demonstrationen sind geplant?

Haidi: Wir arbeiten an einem Programm von vier, fünf Tagen voller Treffen, Debatten, Buchpräsentationen. Wir werden über die Probleme reden, die die Bewegung damals aufgeworfen hatte, vom Drama der Migration bis zum Klimawandel, und über neue Probleme, nicht zuletzt die Pandemien. Und natürlich werden wir über Repression reden. Wir werden Treffen des genuesischen Netzwerks, nationale Treffen und eine internationale Versammlung abhalten. Sobald das Programm fertig ist, wird es auch auf unserer Website https://www.piazzacarlogiuliani.it verfügbar sein.

Heiko: Am Todestag von Carlos kamen in Genua auch Kinder zur Welt. Was weiß einer dieser heute 20jähriger Mensch über den Carlo von damals?

Haidi: Sehr wenig. Aus diesem Grund haben wir einen Wettbewerb für fünf Stipendien ins Leben gerufen, der sich an junge Leute richtet, die dieses Jahr Abitur machen (www.carlogiuliani.it/archives/homepage/6775)

Heiko: Gibt es in Italien eine Erinnerungskultur?

Haidi: Es kommt darauf an, an wen und an was man sich erinnern will…

Heiko: Dein Mann und du, ihr habt ja sehr intensiv daran gearbeitet, die Erinnerung an die Ereignisse wach zu halten, nach Verantwortlichkeiten und direkt Verantwortlichen zu suchen. Du bist viel herum gereist, hast Vorträge gehalten und Projekte ins Leben gerufen. In Deutschland ist darüber recht wenig bekannt. Was hast du gemacht, und wie?

Haidi: Es ist unmöglich, das hier alles zu erzählen! Ich war fünfzehn, sechzehn Jahre lang ununterbrochen unterwegs, es war wahnsinnig anstrengend. Und dann die Bücher, die Artikel, mit denen ich versuchte, all den Unwahrheiten etwas entgegen zu setzen. Ich bin sogar kurz vor dem Fall der Mitte-Links-Regierung für die Rifondazione Comunistà in den italienischen Senat gekommen, wo ich die Hoffnung hatte, an einer Untersuchungskommission teilzunehmen, die dann aber nie zustande kam … Nein, an alles kann ich mich nicht mehr erinnern.

Heiko: Ich habe dich in Mailand bei der Demonstration für Davide Cesare gesehen, der im Jahr 2003 ermordet wurde. Mit all den anderen Müttern und Vätern, deren Kinder von Neonazis oder von Polizisten ermordet wurden. Und am Strand bei Rom, in Focene, zum Gedenken an Renato Biagetti, der im Jahr 2006 erstochen wurde. Bitte erzähle uns etwas über deine Bemühungen, die unterschiedlichsten Menschen zu verbinden. Wie und warum hast du das gemacht? Und welche Erfolge hast du damit gehabt?

Haidi: Ich habe immer verzweifelt versucht, Verbindungen zu schaffen, manchmal fast über das Menschenmögliche hinaus. Diejenigen zu vereinigen, die sich um die Opfer kümmern (Opfer des Staates bzw. der Nachlässigkeit des Staates, oder Opfer von Massakern, bei denen auf irgendeine Art der Staat im Spiel war…). Ich wollte diejenigen vereinen, die sich als politisch links sehen, die sich für gemeinsame Werte einsetzen… Ich sehe mich als eine alte libertäre Kommunistin, Atheistin, gegen jede Form von Rassismus, Zionismus oder fundamentalistischem Fanatismus. Während ich nun ich selbst bleibe, habe ich Genoss*innen und Freund*innen aller Hautfarben, Religionen und sexuellen Neigungen, und nie gab es Probleme, mit ihnen zusammenzuarbeiten. Ich arbeitete in dieser Schule mit anarchistischen Kolleg*innen und mit anderen, die von der katholischen Religion her kamen… Wichtig ist, sich auf die Grundwerte zu einigen, anstatt über Einzelfragen zu streiten. Warum können wir das nicht alle?! Mein Versuch, die Vereinigungen der Opferfamilien staatlicher Gewalt zusammen zu halten, scheiterte, als zwei Fälle (Federico Aldrovandi und Stefano Cucchi) ins Fernsehen kamen. Während wir forderten, das gesamte System zu reformieren, wurde auf der Gegenseite nur von einigen “faulen Äpfeln” gesprochen und das Vorgehen der anderen verteidigt. Dieser Diskurs war dem System dienlich, deshalb hat er gewonnen.

Heiko: Marco Bucci ist seit 2017 Bürgermeister von Genua. Seit 42 Jahren ist das die erste rechte Kommunalregierung in Genua, und in den letzten Jahren hört man in Genua wieder von den Hammerskins von “Lealtà Azione”, von Forza Nuova und CasaPound. Wie sieht Genua heute politisch aus?

Haidi: Ein trauriger Aspekt… Es hatte sich eine antifaschistische Versammlung gebildet, die natürlich von der Polizei sofort ins Visier genommen wurde. Gegen viele wird wegen Widerstand gegen die Staatsgewalt ermittelt (unser Wort gegen ihres hat ja kein Gewicht), und einige wurden wegen Demonstrationen gegen Casa Pound verurteilt. Die Stadt äußert sich dazu nicht, leider. Die Pandemie hat selbst die besten Leute zum Schweigen gebracht…

Heiko: Der Aufstieg von Lega und der faschistischen Fratelli d’Italia wird in Deutschland mit Sorge verfolgt. Was kannst du uns zur Zukunft Italiens sagen?

Haidi: Ich habe nicht die Fähigkeit, die Zukunft voraus zu sehen. Ich setze meine Hoffnungen in die nächste Generation…

Heiko: Hast du ein abschließendes Wort an die Genoss*innen in Deutschland?

Haidi: Leisten wir Widerstand, Genossinnen und Genossen. Und wenn möglich, wie der alte Don Gallo sagte: “Kopf hoch!”

Heiko: Ich möchte mich ganz herzlich bei Dir bedanken und grüße hier noch mal alle, die sich im Juli dieses Jahres in Genua zum Gedenken an Carlo versammeln.

Übersetzung aus dem Italienischen von Jörg  Senf

I commenti sono chiusi.